Für Werner Haftmann

Michael Semffs Grabrede zur Beisetzung Haftmanns am 3.8.1999

Ich bekenne, ich habe gelebt: Dieses Diktum Pablo Nerudas könnte geradewegs aus dem Munde unseres Verstorbenen stammen. Reichtum und gedrängte Fülle des Lebens von Werner Haftmann mögen ihresgleichen suchen. Werner Haftmann war einer jener charismatischen Geister, der wohl keinen, der ihm je begegnete, unberührt ließ. Seine Unbedingtheit und moralische Integrität forderten heraus. An der nicht selten polarisierenden Macht seines Denkens und Handelns – kaum auf Affirmation und beruhigenden Ausgleich gerichtet – konnten sich durchaus die Geister scheiden. Haftmann hat immer Stellung bezogen. Er lebte voll in seiner Zeit, und doch liebte er im Stillen die Anachronismen. In seinem grundsätzlich gutmütigen Wesen lauerte latent ein Potential genußvoll-intellektueller Agressivität. Jederzeit war dieser Mann zum Disput aufgelegt, wenn man ihn nur dazu provozierte, und wenn es um die Sache, um das Anliegen der Kunst ging.

Werner Haftmann versetzte uns in Spannung. Seine Gegenwart wirkte auf viele mit einer eigentümlichen Suggestion. Der Malerfreund Emilio Vedova hat dies aus seinem eigenen Lebensgefühl heraus kongenial in Worte gefaßt: Werner Haftmann = ‘Zusammenprall von Welten’. Ostpreußen und Griechenland, Berlin und Florenz – und Venedig … Was für eine Mischung! Ständig in leidenschaftlicher Spannung, ständig unter Druck, eigentlich völlig unmöglich.

Dieser elektrisierende Zug der Persönlichkeit Werner Haftmanns strahlte auch auf diejenigen, die ihn erst nach seinem Ausscheiden aus dem Museumsalltag, im Alter von siebzig oder später, kennenlernen durften. Keineswegs milde abgeklärt vermochte er noch geistige Feuerwerke sondergleichen zu entfachen, konnte Freunde beschwingt zusammenführen und ebenso beschwingt Tischgesellschaften sprengen, ohne daß man es ihm hätte übelnehmen wollen. All dies ließ nur ahnen, wie der Furor beschaffen gewesen sein muß, der ihn im Zenit seiner Möglichkeiten beflügelte (…)

Werner Haftmann war mit einem glänzenden Intellekt reich beschenkt. Sein unbestechliches Auge, seine blitzende Beredsamkeit, der geradezu symbiotisch mit nervöser Ungeduld gepaarte geistige Hochdruck und eine glücklicherweise bis ins hohe Alter beneidenswerte Physis trotz schonungsloser Lebensführung prägten Persönlichkeit und Leistung.

Schon hochbetagt verblüffte er uns Jüngere mit seinem enormen Gedächtnis und vor allem mit seiner Fähigkeit, komplizierteste Zusammenhänge anschaulich zu machen. Wir spürten immer, daß seine Stimme überdauern würde, weil sie die emotionale Betroffenheit in etwas Übergreifendes, Umfassendes einbetten konnte, weil historischer Maßstab und Zeugenschaft in Erkenntnis mündeten. Haftmanns Enthusiasmus konnte uns begeistern und regelrecht anstecken. Als Kunsthistoriker war er historisch und künstlerisch, sachlich und halluziniert. Er war nicht der intellektuelle Analytiker, sondern bei ihm mischten sich in unnachahmlicher Weise Emotion und Reflexion. Es waren recht eigentlich zwei Seelen in seiner Brust, die sich wie zwei sich bedingende Triebfedern zu einem Strahl bündelten: Seine Passion für die Quellen, für das Historisch-Exakte, für die Methodik einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise, wie er sich selbst ausdrückte, sowie die weite Dimension von Empfindung und Einfühlung, die im Hervorrufen antwortender Gegenbilder Interpretation erst ermöglichten. (…)

Sein Eintreten für die Kunst als souveräner Anwalt seiner Künstler war in hohem Maße von persönlichen Kontakten abhängig, hatte – unter dem Einsatz seiner ganzen Autorität – etwas Bekenntnishaftes. Dies Bekenntnishafte war im Pathos seiner Sprache unverstellt zu vernehmen. Es war nie der apercuhafte, journalistisch-plaudernde Ton des Kritikers, sondern die anschauliche und differenzierende Sprache des schreibenden Gelehrten.

(…) Haftmanns Vielseitigkeit war sprichwörtlich. Sein Sensorium war keinesfalls einzig auf die Abstrakte Kunst nach 1945 gerichtet, mit deren Aufblühen sein Name für immer verbunden bleiben wird. Als Direktor der Berliner Nationalgalerie sammelte er auch mit dem Mut zur Abweichung von gängigen Pfaden. Schon früh nahm er sich neben Fixsternen wie Klee, Wols, Baumeister und Nay, neben Hartung, Soulages, Winter und Bissier, neben den großen Franzosen und Italienern auch der weniger zentralen Figuren an und widmete ihnen Texte, die gültig bleiben werden. Fritz Winters schönen Ausspruch, nicht das Vornsein, sondern das Im- und Nebensein, interessiere ihn als Maler vorrangig, konnte sein Interpret auf seine Weise immer wieder leise, aber umso eindringlicher erfüllen. So begeisterte sich Haftmann etwa für Meyer-Amden, für Gilles, Teuber, Purrmann oder Oskar Coester, für die Bildhauer Avramidis, Blumenthai, Despiau, Kasper, Marcks, Matschinsky-Denninghoff, Stadler und Uhlmann, und den jüngeren Martin Maier. Dieses latente Interesse am Figürlichen und an der Skulptur im besonderen wird leicht übersehen, obgleich es für ihn von allem Anfang an, seit seiner Dissertation bei Vitzthum über Das Italienische Säulenmonument 1939 prägend gewesen ist.

Neben der Lebensleistung Werner Haftmanns, die in den vergangenen Tagen uneingeschränkte Würdigung erfuhr, berührte uns Jüngere vor allem seine Menschlichkeit und Ausstrahlung. Wer ihn persönlich näher kannte, der mußte seinen verschwiegenen Humor lieben, seine oftmals trocken-verschmitzten Bemerkungen (…).

Schließlich die Tage im Florentiner Kunsthistorischen Institut. Monatelang exzerpierte er dort mit der Geduld eines Buchhalters, in seiner so sachlich- buchstabierenden, extrem kleinen, aber durchaus weich gerundeten Handschrift Chroniken von Muratori und Migne. Wenn man schließlich den richtigen Augenblick traf, ließ er sich gegen 14 Uhr gerne zu einem Tramezzino und zu einigen bicchieri in die Fiaschetteria um die Ecke verlocken. Und meistens nahm der Nachmittag dann an Breite und Tiefe zu, wie er sich so plastisch auszudrücken pflegte.

Mit dem Tod von Werner Haftmann erlischt fast vollständig eine ganze Generation bedeutender Geister unseres Fachs. Da er aber ein Mann war, dem jede Art von Repräsentation und falscher Feierlichkeit fremd war, haben wir dies zu respektieren. So müssen wir uns – um seine eigenen Worte beim Tod seines Freundes Karl Gutbrod zu zitieren – mit einer gewissen heiteren Trauer, mit einer von Melancholie verdunkelten Heiterkeit einreden, daß das Glück, ihm begegnet zu sein, die Trauer des Verlusts zu überwiegen habe.

(Michael Semff)

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